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Junge Literatur

Das sind die Siegertexte des Schreibwettbewerb des Literaturbüro Freiburg 2015

  • Di, 28. Juli 2015, 21:51 Uhr
    Freiburg

     

70 Jugendliche haben am Wettbewerb des Literaturbüro Freiburg teilgenommen – eine Jury aus Schülern kürte die besten Einsendungen. Die beiden Siegertexte von Marie Frevert und Marius Müller in voller Länge

Höchstwahrscheinlich nicht mit Schreib...s Schreibwettbewerb des Literaturbüro.  | Foto: photocase.de/spacejunkie
Höchstwahrscheinlich nicht mit Schreibmaschine geschrieben: die Siegertexte des Schreibwettbewerb des Literaturbüro. Foto: photocase.de/spacejunkie
Marie Frevert: Nur ein Traum (1. Platz)

Fünf Tage schon sind wir unterwegs.
Wohin ich auch schaue, überall Wasser.
Aneinander gepfercht wie Tiere siechen wir dahin, während der Boot, kaum eine Walnussschale, durch die endlose Wüste aus Wasser schaukelt.
Meine Schwester liegt auf meinem Schoß, sie redet in einem Fiebertraum zu mir:
"Komm Karim, lass uns etwas spielen. Die anderen Kinder sind schon draußen
...Riechst du das? Mama hat bestimmt wieder einen Kuchen gebacken. Sag Karim, wo ist Papa? Wollte er nicht zum Abendessen wieder zu Hause sein? …Wie blau der Himmel heute ist. Blau ist eine schöne Farbe, nicht?"
"Ja, blau ist eine schöne Farbe."
Blau ist der Himmel, der uns erdrückt. Blau ist das Wasser, das bedrohlich funkelt. Blau waren die Augen meines Vaters.
Blaue Augen sind in unserem Land etwas Besonderes, sogar große Staatsmänner haben davor Angst.
Leider habe ich meine Augen nicht von ihm, sondern von meiner Mutter.
Meine Mutter... Meine Augen brennen, doch ich halte die Tränen zurück.
In letzter Zeit sind zu viele von ihnen geflossen, außerdem werde ich die Flüssigkeit noch brauchen. Vor zwei Tagen haben wir die Wasserreserven aufgebraucht, seitdem sitzen wir nur noch da und schweigen wie verdurstende Kamele.
Meine Schwester hat sich am Anfang beschwert und nach Wasser verlangt, oder irgendetwas, um ihren Durst zu stillen. Als ich sie dann daran gehindert habe, das Meerwasser zu trinken, ist sie ganz ruhig geworden.
Gestern fing es dann an mit dem Fieber. Erst stöhnte sie und redete wirres Zeug, aber inzwischen lächelt sie nur noch vor sich hin.
Wie ein Engel.
Ich habe Angst, dieser verheißungsvollen Traumwelt zu verfallen, die so viel schöner sein muss als unsere blaue Hölle.
Und ich habe Angst, dass ich dann nie wieder zurück will, in die wirkliche Welt.
"Schau doch, Karim, wie Mama schwimmt! Hallo Mama! ...Da bist du ja, Papa. Mama hat etwas Leckeres gekocht! Aber warum sind da Männer im Flur? Willst du nicht zum Abendessen bleiben? Das Essen wird sonst kalt! … Willst du auch schwimmen? Mama ist schon im Wasser!"
Ich wünschte, ich könnte so unbeschwert reden wie sie. Aber sie ist noch jung, sie hat das ganze Leben vor sich.
Sie hat nicht mit angesehen, wie unser Vater verhaftet wurde. Oder wie unsere Mutter ertrunken ist. Für sie ist das alles nur ein Spiel gewesen, und Mama und Papa haben es verloren. So einfach ist das. Wie gerne würde ich die Welt aus ihren Augen sehen.
Aber ich kann das nicht mehr, ich habe meine Kindheit in den letzten Tagen wie ein zu klein gewordenes Hemd abgelegt, um in ein viel größeres zu schlüpfen, in das ich seither schwimme.
Samira, mein kleiner Engel, hat aufgehört zu reden. Sie schaut zu mir hoch, aber eigentlich ist sie nicht mehr hier. Sie ist schon woanders, an einem schöneren Ort. Dort sind wir alle vereint, die ganze Familie.
Ich rede auf sie ein, versuche sie zu überzeugen, mich nicht im Stich zu lassen. Nicht sie auch. Sie ist mein Anker, die letzte Kraft, die mich hier festhält.
Aber ich kann sie nicht halten, kann sie nicht davon überzeugen, dass es ihr hier besser gehen wird.
Sie ist schon weit weg, während ich mich an ihren ausgemergelten Körper klammere. Aber meine Tränen sind schon längst versiegt, fortgerissen von diesem brennenden Durst.
Der kleine Körper wird mir entrissen, landet bei den anderen Körpern im Wasser. Still beobachte ich, wie das Meer ihn verschlingt und mit einer nassen Decke überzieht.
Es ist mitten in der Nacht und die Sterne funkeln uns aus einem klaren Himmel an. Es sind die Sterne der Verstorbenen und Ertrunkenen. Es sind viele Sterne. Zu viele.
Ich will nicht mehr darüber nachdenken, wie lange ich noch leben werde und wie viel Leid schon dieses Meer gesehen hat. Ich will einfach nur schlafen und alles vergessen. Und hoffen, dass alles nur ein Albtraum war.

Aber ich schlafe nicht ein, denn jedes Mal, wenn ich es versuche, sehe ich sie.
Sie trägt ein rotes Kleid und strahlt mich an. Ihr Kinderlachen hallt in meinen Ohren wider, während sie mir etwas zuruft. Ich verstehe sie nicht, aber instinktiv muss ich lächeln. Sie sieht nicht so aus wie vor ihrem Tod. Sie sieht aus wie früher, vor dem Ganzen. Verändert. Glücklich.
Ihre Züge verblassen, machen einem anderen Bild Platz: Meine Mutter kocht, es duftet in der gesamten Wohnung. Ich sehe sie in der Küche stehen. Mein Vater kommt herein und umarmt sie von hinten. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie beide lachen.
Plötzlich donnern Fäuste gegen die Haustür. "Polizei! Aufmachen!"
Mein Vater drückt meiner Mutter leicht die Hand. Sie verstehen sich auch ohne Worte.
Sie schaut ihm lange in die Augen, dann nickt sie.
Auch dieser Augenblick verblasst unter den vielen Erinnerungen und ich öffne die Augen.
Inzwischen ist es morgen und der Himmel leuchtet rötlich auf.
Meine Lippen haben ein Lächeln geformt. Es schmerzt und ich schmecke Blut. Sie waren wahrscheinlich so trocken, dass sie gerissen sind.
Den ganzen Tag über verbringe ich damit, Wolken und Wellen zu zählen, damit ich nicht an diesen unbändigen Durst erinnert werde, der meine Kehle austrocknet und uns alle am Reden hindert.
Viele schon sind der Versuchung erlegen, ihren Durst mit ihren Ausscheidungen zu stillen, ich noch nicht. Wir wissen aber alle, dass wir nicht mehr lange durchhalten können.
Wenn es nicht der Durst ist, der uns tötet, dann ist es die pralle Sonne oder das Wasser, das bei jeder größeren Welle ein paar Unglückliche mit sich reißt, während wir anderen darauf hoffen, dass das Boot nicht kentert.
Ich habe aufgehört in den Himmel zu schauen. Stattdessen versuche ich den Grund des Meeres zu erraten. Ich sehe ihn, ein tiefer Abgrund. Da unten sehe ich sie alle, meine ganze Familie. Vereint.
Ich brauche nur den Arm auszustrecken, dann kann ich sie erreichen.
Sie winken mir zu, rufen mich zu sich. Ich beuge mich vor, bin bald wieder daheim.
Aber etwas hält mich am Arm fest. Oder besser gesagt jemand.
Der Fremde reicht mir seine Hand : "Yusuf." Er sieht mich mit seinen stechenden Augen an, als könnte er jeden meiner Gedanken erraten.
Er weiß, was ich vorhatte, aber er sagt nichts, vielleicht, weil er nicht genügend Speichel dafür hat.
Seine Haltung verströmt eine ungewöhnliche Ruhe, dabei muss er ungefähr so alt sein wie ich. Er wirft mir immer wieder rasche Blicke, um sicherzugehen, dass ich nichts Unüberlegtes tue.
Jetzt habe ich einen Beschützer, und irgendwie beruhigt mich das.

Bald schon breitet sich die Nacht erneut über unseren Köpfen aus. Wie ein Cocon umschließt sie uns und gibt uns Sicherheit. Leider währt der Frieden nicht lange.
Auf einmal bleibt das Boot stehen.
Zwei Lichter stechen durch die Nacht. Gemeinsam versteifen wir uns gegen die bevorstehende Gefahr. Gebannt lauschen wir auf das näher kommende Brummen der Motoren. Aus den Tiefen des Kahns kommt ein Wispern : "Grenzer! Sie haben uns gesehen. Wir sind verloren!"
Hundert entsetzte Gesichter halten den Atem an, aus Angst, die Grenzer könnten auf sie aufmerksam werden, während sie versuchen, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.
Hundert offene Münder formen stumm ein Gebet, während das schemenhafte Grenzboot ähnlich einer Erscheinung vorübergleitet.
Hundert Lungen füllen sich im allgemeinen Aufatmen, als die alles verschlingende Stille wieder einsetzt und bewusst wird, wie knapp sie einer Entdeckung entronnen sind.
Hundert Menschen nun schreien im Chor auf, als das Boot sich durch die Kraft einer Welle zur Seite neigt und sie alle in das hungrige Nass geworfen werden.
Das ganze Schauspiel dauert knapp eine Stunde, dann sind diese hundert elenden Menschen von ihren Qualen befreit.
Auch ich werde in die Tiefe gezogen und ich sehe mich schon mit den anderen Sternen den Himmel erleuchten. Aber eine Kraft, ein Urinstinkt jedes Lebewesens, lässt mich strampeln und mich gegen das Wasser ankämpfen.
Mit Mühe schaffe ich es, ein letztes Mal aufzutauchen. Der Himmel ist schön heute, denke ich noch, ehe das Wasser in meinen Mund dringt.
Ertrinken ist kein schöner Tod. Erst füllen sich die Lungen mit diesem scheußlichen Meerwasser, es erdrückt einen von innen. Dazu kommt, dass die Tiefe einen zu sich zieht und währenddessen das ganze Leben wie ein Farbfilm vorm inneren Auge abgespielt wird.
Aber ehe ich der Welt Lebewohl sagen kann, hat mich auch schon jemand am Arm gepackt und zieht mich Richtung Luft.
Yusuf.
Nachdem er mich zu den anderen ans umgedrehte Boot gebracht hat schaut er mir dabei zu, wie ich huste und mich mehrmals übergebe. Ich schaffe es noch, ihm für seine Rettung zu danken, da dringt ein allzu vertrautes Geräusch zu uns.
Dieses Mal aber ist es kein Entsetzen, das wir verspüren, sondern unermessliche Freude, als die Grenzpolizei auf uns zukommt.
Jeder einzelne Überlebende verbraucht seine letzte Kraft, um Hilfe zu rufen.
Es sind wenige Stimmen, die meisten von ihnen nur ein heiseres Krächzen als Beweis unserer tagelangen Austrocknung.
Was ist, wenn uns die Grenzer nicht hören? Was, wenn sie einfach vorbeifahren oder, schlimmer, uns mit ihrem Schiff rammen?
Yusuf neben mir muss das gleiche gedacht haben, nur dass er jetzt gegen das umgekippte Boot schlägt wie ein Verrückter. Wir alle machen es ihm nach.
Da, endlich, hält das Boot an. Es leuchtet uns an, hat uns endlich entdeckt.

Danach geht alles blitzschnell. Ich kann den Grenzern anmerken, dass so etwas für sie Routine ist und dass diese Routine sie langweilt. Allerdings haben sie die Geistesgegenwertigkeit, uns etwas zu trinken zu geben, bevor sie uns näher unter die Lupe nehmen.
Ein Polizist bleibt vor mir stehen und stellt mir lauter Fragen. Ich sage ihm, dass ich ihn nicht verstehe. Yusuf übersetzt für mich.
Wir erfahren, dass wir in Italien gelandet sind. Das ist gut, denn von hier aus können sie uns nicht einfach zurückschicken.
Der Polizist schaut in seine Papiere, sieht wieder hoch, durch mich hindurch und wiederholt seinen Text : "Name ?" - "Karim Yesir" - "Alter?" - "16" -
"Staatsangehörigkeit?" - "Syrisch" - "Angehörige?" … Ich schweige.
Er fragt mich erneut. Was will er von mir hören?
"Keine", probiere ich. Er schreibt sich etwas auf.
"Du bleibst hier, bis wir die Daten geprüft haben. Dann werden wir sehen, ob du bleiben darfst oder nicht."
Habe ich mich verhört? Kann es sein, dass ich wieder nach Syrien geschickt werde?
Nach allem, was ich verloren habe? War das ganze Leid, der Tod meiner Familie - war das alles umsonst? Um jetzt wieder an den Ort gebracht zu werden, von dem ich geflohen bin?
Von Yusuf erfahre ich, dass Minderjährige eine größere Chance haben, zu bleiben, als Erwachsene. Er sieht mich traurig an mit seinen durchdringenden Augen.
Er ist gerade 18 geworden.

Wir landen zusammen in einer Auffangstation, ein anderes Wort für Gefängnis. Ich bleibe immer in der Nähe von Yusuf.
Es kann eine Weile dauern, bis wir wissen, ob wir bleiben dürfen oder nicht.
Solange sind wir draußen, zu mehreren Dutzend eingeengt, wie auf dem Kahn. Aber wenigstens kann ich hier noch meine Beine bewegen.
Ich schaue starr geradeaus. Hinter den Gittern und Zäunen sehe ich das Meer silbern glänzen. Irgendwie vermisse ich es.
Vom Strand führt eine Straße in die Stadt. An dieser Straße steht ein Schild, fest verwurzelt im Asphalt. Es ist blau und darauf prangen viele Sterne. Es steht etwas geschrieben.
"Willkommen in der Europäischen Union", liest Yusuf. Er lacht.
Ich muss unwillkürlich mitlachen, aber es klingt eher wie ein Schnauben.
Wie etwas, was Menschen von sich geben, die schon zu viel gesehen haben.
Ich kneife die Augen zusammen. Das Schild verschwimmt langsam vor meiner Sicht, wird zu einem blauen Fleck, so als gäbe es keine Grenzen, nur dieses undurchdringliche Blau.
Aber das ist wahrscheinlich nur ein Traum.

Marius Müller: Grenzenlos (2. Platz)

"Alle einsteigen, der Zug fährt in wenigen Minuten ab!", "Schnell, wenn wir den verpassen fährt heut keiner mehr." Jozsef, Atilla und die anderen sprinteten über die frisch geputzten Fliesen des Bahnhofs zum Zug. "Geschafft! Das wär ja was geworden, hätten wir den verpasst." schnaufte Jozsef. "Aber warum sollte das der letzte Zug sein?" fragte Atilla verdutzt. "Aufmerksam wie immer." Jozsef lachte sarkastisch und sprach: "Hast du den Aufstand vorhin nicht mitbekommen? Auf dem Weg zur Sportarena? Einige Studenten demonstrierten, wahrscheinlich gegen die Regierung. Unser Trainer wusste es auch nicht genau, jedoch wusste er eben, dass dies der letzte Zug für heute ist." "Schon wieder ein Aufstand? Aber ich finde die Regierung hier auch nicht so toll…"
Knarrend fuhr der Zug los und kam nach 45 Minuten in Dorog an. Die Zugtüren öffneten sich und Josef wurde von dem wohlvertrauten Geruch verfaulter Eier begrüßt. Er lief über die verrußten Fliesen zum Ausgang, verabschiedete sich von den anderen und machte sich auf den Weg nach Hause. Atilla lief noch ein Stück mit, da er in der Nähe wohnte. Auf ihrem Weg mussten sie an einem russischen Denkmal vorbei. Attila spuckte verachtend vor das Denkmal auf den Boden. "Ja, ich verabscheue dieses Denkmal genauso. Ich sehe es ja sogar direkt aus dem Fenster von meinem Zimmer. Aber sowas kannst du doch nicht machen. Hier könnte jederzeit eine russische Truppe gerade um die Ecke kommen und du weißt was dann passiert…" flüsterte Jozsef aufgeregt in Attilas Ohr, "Sollen die doch wieder abhauen. Seit die hier in Ungarn sind und versuchten die Regierung zu übernehmen hat sich alles verschlechtert! Ungarn ist unser Land, die sollen wieder ne Fliege machen." Attila steigerte sich weiter und weiter in diese ganze Sache hinein und fluchte vor sich her. "Du hast schon Recht, aber ich habe keine Lust heute mit den Russen Bekanntschaft zu machen. Ich würd dir auch empfehlen dass du lieber schnell heim gehst, aber das ist deine Sache. Bis demnächst."
"Geh nur! Wenn wir nichts machen, gehört Ungarn bald auch noch zu Russland!" Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging Jozsef weiter seinen Weg. Natürlich mochte er die jetzige Situation auch nicht, aber er konnte nichts machen.
Zu Hause angekommen, begrüßte Jozsef seinen kleinen Bruder Karol. "Wo ist denn Mama?" fragte Jozsef. "Die ist gerade draußen bei den Hühnern und Papa ist wie jeden Tag noch im Kohlebergwerk.", "Sagst du ihr, dass ich da bin? Ich gehe gleich schlafen, ich bin müde, die Sportveranstaltung war echt anstrengend und morgen muss ich ja wieder früh raus. Um sechs Uhr aufstehen. Ich wecke dich dann." sagte er grinsend. "Wag es ja nicht! Ich bin noch in der Schule, ich brauche den Schlaf!" rief Karol hinterher.
Eine Gänsehaut überzog seine ganzen Körper, umschlang ihn. Seine Ohren dröhnten und er stand innerhalb eines Sekundenbruchteils aufrecht im Zimmer. Das Blut in seinen Adern schoss zu seinem Kopf.
Eine grausam laute Explosion hatte ihn geweckt. Er konnte immer noch kaum etwas hören. Mit vorsichtigen, unsicheren Schritten ging er zum Fenster und öffnete zitternd den Vorhang. Er sah gerade noch wie das Denkmal umfiel. RUMS! Die Erde zitterte. Die am Haus vorbeilaufenden Demonstranten bemerkte er unter diesem Schock nicht einmal.
Er sprintete ins Zimmer seiner Eltern, seiner Mutter. Niemand da. Zu seinem Bruder. Er stand dort bleich am Fenster und schaute raus. Jozsef nahm seinen Arm und zog ihn mit nach unten in die Küche. "Mama!" Sie saß zitternd am Küchentisch und hörte Radio. "Mama! Was ist los?" krächzte Jozsef. "Überall, in ganz Ungarn sind Aufstände. Nicht nur Studenten, alle Leute protestieren. Sie wollen eine neue Regierung bilden." "Was ist mit Papa?!" "Er wollte heute schon früher los, hoffentlich ist er in Sicherheit." Sie senkte ihren Blick und man hörte nur die Schreie von draußen. "Wir sollten heute auf keinen Fall nach draußen gehen und auf Papa können wir auch nur warten."
Den Rest des Tages verbrachten Karol und Jozsef in ihren Zimmern und Jozsefs Mutter wartete bis spät in die Nacht auf ihren Mann, jedoch wurde sie enttäuscht.
Beim Frühstück des nächsten Tages herrschte Stille. Es waren keine Proteste mehr zu hören. Die Anspannung, die sich seit gestern Morgen hielt, war immer noch deutlich zu spüren. Sie fraß sie langsam von innen heraus auf.
Karol hörte Schlüssel klimpern, "Papa?!" schrie er erfreut. Er rannte zur Tür, gefolgt von Jozsef und seiner Mutter. Die Türe öffnete sich und tatsächlich, er war es, verrußt von Kopf bis Fuß und total erschöpft. Voller Erleichterung stürzten sich die drei auf ihn. Unter diesem Gewicht brach er auf seinen Knien zusammen, aber auch er freute sich.
Nachdem er sich gewaschen und erholt hatte, saßen sie zusammen am Esstisch. "Was war denn los Papa? Warum bist du so spät dran?", "Nur ein kleiner Vorfall." Er wirkte angespannt.
Später als er Jozsef mit zur Scheune zog, erklärte sich auch weshalb.
"Jozsef. Du müsst mir jetzt genauestens zuhören, du hast ganz bestimmt auch mitbekommen, dass das Denkmal dort hinten gesprengt wurde." Er deutete zu dem verdreckten Platz mit der zersprengten Statue. Er nickte vorsichtig. "Der Sprengstoff dafür wurde aus dem Werkzeugraum gestohlen, gerade gestern, als du nicht da warst. Du musst auf diesen Raum aufpassen und bist somit auch der einzige im Bergwerk, der die Schlüssel für das Vorhängeschloss hat. Das rostige Schloss dort wurde durchgebrochen. Was dich jedoch nicht als Verdächtigen ausschließt. Antworte mir ehrlich, warst du es? Hast du den Sprengstoff gestohlen? Ich werde dir verzeihen, aber ich muss es wissen." Jozsef zögerte kurz "Nein. Ich war es nicht, Vater und ich weiß auch nicht, wer es gewesen sein könnte." "Ok, verstehe. Es haben zum Glück recht wenig mitbekommen, dass es aus dem Bergwerk gestohlen wurde, aber du weißt ja, die, die es wissen, stellen eine große Gefahr für dich dar. Der Aufstand war unter anderem von einigen Studenten geführt, was dich zum perfekten Sündenbock macht."
Die nächsten Tage verliefen ruhig, Jozsef und sein Vater gingen beide nicht zur Arbeit, da im ganzen Land immer noch Aufstände stattfanden. Es war Glück für die Familie, dass gerade Anfang des Monats war, weshalb sie nichts mehr bezahlen mussten. Die Familie verfolgte über das Radio die Geschehnisse und hoffte darauf, dass nichts Schlimmeres passieren würde. Das ganze Land war angespannt. Viele Menschen konnten den Druck nicht aushalten und flüchteten in den Westen.
Es war eine gute Idee zu flüchten, denn kurze Zeit später übernahmen die Russen die Macht oder besser gesagt, versuchten an die Macht zu kommen, denn die Demonstranten würden nicht einfach so aufgeben.
Die Zeit, nachdem die Russen kamen, war düster. Das Land kämpfte. Ein Hoffnungsfunke war ein russischer Offizier, welcher die Seiten wechselte und die Demonstranten unterstützte. Jedoch wurde ebendieser Funke gefühlslos erstickt, als der Offizier und der Anführer der Demonstranten erbarmungslos hingerichtet wurden.
Bis zur Mitte des Monats gab es keine besonderen Ereignisse bei Jozsef und seiner Familie, jedoch änderten sich deren Leben für immer, als das Befürchtete geschah.
"Hallöchen Freund, wie geht's denn so? Kann ich reinkommen?" ein ungepflegter Mann mit einem hinterlistigen Lächeln stand vor der Tür und nahm so gleich den ersten Schritt in das Haus und drückte sich an Jozsefs Vater vorbei in die Küche. "Was willst du? Warum kommst du hier her?" Dieser Mann war im ganzen Dorf bekannt, jedoch nicht im guten Sinne. Er war als gewissenloser Trinker bekannt. Öfters versuchte er, sich auf irgendeine Weise Alkohol zu schnorren, wenn ihm mal wieder der Schnaps ausgegangen war.
Er setzte sich entspannt auf den Küchentisch und sprach gelassen: "Ich werde es ganz offen sagen. Du wirst es wahrscheinlich selbst schon erahnen, ich brauche was zu trinken. Aber natürlich nicht Wasser." "Und wieso glaubst du, dass du hier einfach hereinspazieren kannst und Alkohol bekommst?" Ein so dreckiges Lächeln, wie er es noch nie gesehen hatte, überzog das Gesicht seines Gegenübers, "Ich weiß Bescheid ..." Jozsefs Vater versuchte ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. "Über was?" "Du weißt ganz genau, was ich meine." Er schwieg einen Moment "W enn ich von euch keinen Alkohol bekomme, dann geht es deinem Sohn an den Kragen! Ich werde ihn Anzeigen und die Russen werden sich über ihr gefundenes Essen freuen." Immer noch über das ganze Gesicht grinsend wartete er auf die Reaktion des Vaters, welche aus einem lauten niedergeschlagenen Schnaufen und den Worten: "Wieviel willst du?" bestand. Der Alte konnte sein Grinsen nicht mehr kontrollieren und lachte mit kratzender Stimme.
"Wie wär's mit zwei Flaschen Schnaps und einer Flasche Wein. Für den Anfang reicht das." "Was heißt hier für den Anfang?" "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das nicht ausnutzen werde..." Ohne ein weiteres Wort ging der Vater, holte den Alkohol und schickte den Mann auf möglichst grobe Art aus seinem Haus.
Am Morgen des nächsten Tages erzählte Jozsefs Vater ihm von den Vorfall am gestrigen Tag. Er meinte, wenn schon der Dorftrinker wusste, dass der Sprengstoff im Bergwerk gestohlen wurde, dann dauert es auch nicht mehr lang, bis es die anderen auch wussten. Jozsefs Vater drückte seinem Sohn einige Papiere in die Hand "Die hab ich gestern besorgt. Einen neuen Ausweis und eine Bescheinigung, dass du Zucker nach Österreich bringst..." "Aber, Papa..." "Kein aber, "es wäre hier zu gefährlich für dich. Deine Mutter weiß schon Bescheid, nur dein Bruder nicht."
Er ging in Jozsefs Zimmer und packte einige Kleidungsstücke in einen Rucksack, welcher schon mit einem Vesper und einer Wasserflasche gefüllt war. "Die Grenzen sind gerade offen, also wird es hoffentlich kein Problem geben, wenn ihr über die Grenze geht. Der Laster auf dem du mit ein paar anderen bist, fährt in einer Stunde los. Den Laster fährt eine Bekannte von mir, sie wird dich erkennen also mach dir keine Sorgen. Du darfst erst wieder kommen, wenn sich die Situation hier gebessert hat." Er gab Jozsef den Rucksack und umarmte ihn so fest wie möglich.
Jozsefs Gesicht war bleich, er fühlte seine Beine nicht, er bekam kein einziges Wort heraus. Sein gläserner Blick richtete sich zu der gesprengten Statue, welche er durch sein Zimmer sehen konnte. "Warum passiert das alles? Träume ich?" Er konnte es nicht glauben, es ging alles viel zu schnell. Er fühlte sich, als würde er träumen. Er kniff sich in den Arm, so stark, dass er einen Bluterguss bekam, doch wachte er nicht auf.
Später als er sich wieder etwas beruhigt hatte, war es auch schon Zeit für ihn zu gehen. Sein Bruder schlief noch. Jozsef half dies etwas bei seiner Abreise, doch einige Tränen fanden den Weg die blassen Wangen hinab.
Nach einigen Minuten Laufen kam er bei dem Laster an. Auf den ersten Blick bemerkte man nichts Ungewöhnliches, ein normaler Laster. Schaute man jedoch in den Anhänger, bemerkte man dort zwei Zuckersäcke und ungefähr 20 Leute. Alle kamen aus Dorog oder der Nähe und alle wollten nach Österreich.
Jozsef näherte sich langsam dem Laster und hielt nach der Bekannten Ausschau, aber niemand schaute zu ihm. Er fragte sich ob die Bekannte vielleicht krank sei, verspätet oder ähnliches. Doch ein fester aber freundschaftlicher Schlag auf die Schulter riss ihn aus seinen Gedanken. "Du musst Jozsef sein, ich habe dich schon erwartet." sprach eine Frau mit tiefer Stimme und russischem Akzent. Jozsef drehte sich ruckartig um und erkannte nur die Umrisse einer großen Frau, da ihn die Sonne blendete. Ganz ruhig, als wäre es nichts Besonderes zu flüchten, als wäre ganz Ungarn nicht unter russischer Herrschaft, als würde es ihr nichts ausmachen, sprach sie: "Mein Name ist Olga." Sie schwieg einen Moment. "Mach dir keine Sorgen wegen meines Akzents, ich bin zwar russisch, doch bin ich hier in Ungarn geboren und natürlich auf deiner Seite." Sie streckte ihm ihre, nicht all zu weibliche, Hand entgegen. Er zögerte einen Moment und betrachtete sie noch einmal von Kopf bis Fuß, versuchte jedoch dies unauffällig zu machen. Nach diesem kurzen Moment gab er ihr die Hand und begrüßte sie. Noch etwas schüchtern stellte er sich auch vor, jedoch wusste sie seinen Namen schon.
Olga fuhr den Laster und Jozsef saß tatenlos als Beifahrer daneben. Auf der holprigen Landstraße auf welcher sie fuhren, dauerte es ungefähr zwei Stunden bis zur Grenze. Das Quietschen des Lasters wurde nach dem halben Weg unerträglich, mit einem Gespräch konnte sich Jozsef auch nicht ablenken, da das Knarren des Lasters jedes Wort übertönte. Jozsef gefiel das gar nicht, denn er hätte noch einige Fragen an Olga. Das Vertrauen zu ihr war zwar bis jetzt eher gering, doch wenn es eine Bekannte seines Vaters war, konnte sie nicht so schlimm sein, wie sie auf ihn wirkte.
Je weiter sie sich der Grenze näherten, desto angespannter wurde die Situation. Selbst in Olgas, vorhin noch so entspannten Gesicht, war nun Unruhe zu sehen. Sie hatten zwar beide die Papiere für eine legale Grenzüberschreitung, doch brachte ihnen das keine Ruhe. Einige Kilometer vor der Grenze begann ein Stau, tausende Menschen wollten jetzt noch aus diesem Land. Es waren jedoch nicht gerade wenige, die wieder zurück mussten, da sie wahrscheinlich aus verschiedensten Gründen weggeschickt wurden.
Nach weiteren langen Stunden warten, waren sie an der Zollstelle angekommen.
Olga gab dem Mann dort beide Zettel und sagte, immer noch unruhig, das sie zu einer Raffinerie in Österreich Zucker brachten. Man hörte keinen Mucks von den anderen "Mitfahrern". Gerade als der Mann sie durchwinken wollte, kam sein Partner und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf die beiden beschlossen, noch in den Anhänger zu schauen. Als der erste Lichtstrahl hineinschien, gerieten die Mitfahrer in Panik. Zum Glück hatten sie sich davor schon einen Plan ausgedacht. Sie hatten schon die Planen von beiden Seiten gelockert, ließen sie nun herab, sprangen raus und rannten in alle Richtungen davon.
Die beiden Beamten wirkten nicht gerade amüsiert, ließen Jozsef und Olga aber dank deren Papiere unbehelligt die Grenze passieren.
In Österreich wurden so viele Flüchtlinge wie möglich aufgesammelt und nach Eisenstadt gebracht. Auch Jozsef gelang auf diese Weise nach Eisenstadt, nachdem er von Olga bei der nächsten Möglichkeit herausgelassen wurde. Denn Olga fuhr in eine andere Richtung weiter.
Nachdem Jozsef eine längere Fahrt, gequetscht mit anderen Flüchtlingen, in einem Bus überstand, kam er in dem Aufnahmelager in Eisenstadt an. Nach wenigen Minuten hörte er eine Durchsage: "Alle Studenten begeben sich bitte zum Ausgang" Dort warteten auch schon viele andere Studenten. All diese kamen dann drei Wochen lang in eine Pension am Wörthersee. Die Personalien von allen wurden erfasst und jeder einzelne Student durfte aussuchen, wo er studieren durfte, es war wie ein Wunder.
Jozsef ging wegen seiner deutschen Verwandtschaft natürlich nach Deutschland. Er bekam einen Deutschkurs und lebte sich schnell ein. Nach Hause konnte er jedoch erst wieder nach vielen Jahren, es waren um die zehn. Die Grenzen waren über diese Zeit unüberquerbar, niemand hatte eine Chance aus Ungarn raus oder rein zu kommen.
Jozsef lebt heute im Jahr 2015 immer noch in Deutschland. Er hat seit langem wieder Kontakt mit seiner Familie. Wurde selbstständig und patentierte sogar eine Mechanik, welche in fast allen Süßstoffdosen benutzt wird.
Heute sind all diese Grenzen, die eine Zeit lang so stark bewacht wurden, offen für jede Person und die Länder der EU sind grenzenlos...

Marius Müller

Ressort: Freiburg

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